Die Gründung der Lebenshilfe Hamburg

Von Dr. Bodo Schümann*

 

„Die Euthanasie besteht vollkommen zu Recht. Es wird höchste Zeit, dass man wieder verkrüppelt zur Welt kommende Kinder einschläfert, umbringt, wie man es einst getan hat.“

 

Dieses Zitat aus einer Zuschrift an die Bundesvereinigung Lebenshilfe aus der Gründerzeit spiegelt auch in der Nachkriegszeit in Hamburg einen nicht unwesentlichen Teil der öffentlichen Meinung wider. Die Entnazifizierung war misslungen, und fast alle NS-Täter, Mitläufer und Sympathisanten wirkten in Staat und Gesellschaft, beruflich rehabilitiert, weiter. Natürlich wurde dieser alte Geist nur gelegentlich so deutlich artikuliert wie in dem obigen Zitat.

In der Gründungsphase der Lebenshilfe hatten auch in Hamburg die Eltern nicht nur ihre eigenen Ängste und ihre Not zu überwinden, stießen auf einen Staat, der die unvorstellbaren materiellen Schäden und die Vernichtung von Menschenleben zu bewältigen hatte, sondern mussten um die Anerkennung und die Rechte ihrer behinderten Kinder kämpfen. Gerade geistig behinderte Kinder waren in der NS-Zeit unter großer Akzeptanz der Bevölkerung für „lebensunwert“, also zum Tode geweiht, oder mindestens für wertlos erklärt worden.

Vor diesem Hintergrund kann man den Mut und die Leistung der Hamburger Eltern nicht genug einschätzen, wenn sie am 12. Februar 1960 die Lebenshilfe Hamburg gründeten, die kurz darauf Mitglied der „Bundesvereinigung Lebenshilfe für das behinderte Kind“ wurde. Die Eltern wollten selbst das Schicksal ihrer Kinder in die Hand nehmen. Nicht von ungefähr fand die Gründungsversammlung im Klassenraum des Sonderschullehrers Horst Ziebell (1927-2007) statt. Ziebell wurde nicht nur zum Leiter dieser Gründungsversammlung gewählt, er war es auch, der die Eltern in ihrem Vorhaben ermunterte und pädagogisch begleitete. Was der holländische Pädagoge Tom Mutters für die Gründung der Bundesvereinigung bedeutete, traf auf Horst Ziebell für die Gründung des Hamburger Landesverbandes zu. Der erste Vereinsvorsitzende Hans Groth verstarb sehr früh, ihm folgte ab August 1961 Dr. Karl Schütze, der die Entwicklung des Vereins nachhaltig prägte.

Die Hamburger Lebenshilfe hatte sich früh in ihrer Satzung dafür ausgesprochen, sich um die Schaffung von Einrichtungen „für geistig Behinderte aller Altersstufen kümmern zu wollen“. Dazu zählte sie sowohl Kindergärten als auch spezielle Sonderschulen und „Behütende Werkstätten“ und plante auch „Förderungs- und Pflegheime“ ein. Kurzum: sie forderte Unterstützungsmaßnahmen für alle Menschen mit geistiger Behinderung, differenziert nach Alter und unterschiedlichen Bedürfnissen.

Die Eltern der Lebenshilfe und Horst Ziebell waren es dann, die zusammen in der Öffentlichkeit und bei den für die Schulpolitik Verantwortlichen die Gründung der ersten und dann weiterer Sonderschulen für geistig behinderte Kinder durchsetzten, deren erste am 5. April 1961 in völlig unzureichenden Räumen an der Elbchaussee ihren Unterricht aufnahm. Auch viele Fachpädagogen bezweifelten damals die Lern- und Schulfähigkeit geistig behinderter Kinder. Ziebell wurde zum ersten Schulleiter berufen und entwickelte mit anderen für Hamburg und in einem Arbeitskreis der Bundesvereinigung Curricula für den Förderunterricht für geistig behinderte Schüler. Bildung, das war schon damals die Überzeugung der Akteure, ist die Voraussetzung für eine möglichst weitgehende Eigenständigkeit der geistig behinderten Menschen. Um überhaupt praktisch den Unterricht gewährleisten zu können, war die konkrete Mithilfe der Eltern unentbehrlich, nämlich z.B. beim Schülertransport, der Essensausgabe, der Begleitung beim Schwimmen und bei Ausflügen. Die Errichtung weiterer Schulen für geistig behinderte Schüler folgte relativ zügig und erfüllte damit eines der wichtigsten Ziele der damaligen Elterngeneration der Lebenshilfe. Strategisch war dies auch von Bedeutung, da sich daraus nunmehr auch wie selbstverständlich die Forderung nach einer Förderung in der Früherziehung ergab sowie nach angemessenen Arbeits- und Beschäftigungsmöglichkeiten nach Beendigung der Schulzeit.

Wie wichtig und zukunftsweisend in der Gründungsphase der Hamburger Lebenshilfe die Forderung nach Bildung und Selbständigkeit der Menschen mit Behinderung waren, lässt sich an der späteren Entwicklung deutlich ablesen, wenn z.B. die Menschen mit Behinderung selbst in der sog. „Duisburger Erklärung“ 1994 feststellten und forderten:

„Wir

  • wollen Verantwortung übernehmen.
  • wollen uns auch um schwächere Leute kümmern.
  • haben das Recht, am Leben der Gemeinschaft teilzunehmen.
  • möchten die Wahl haben, in welche Schule wir gehen.
  • möchten die Wahl haben, wo und wie wir wohnen.
  • möchten so viel Geld verdienen, wie man zum Leben braucht.
  • wollen überall dabei sein! Im Sport, in Kneipen, im Urlaub.
  • möchten über Freundschaft und Partnerschaft selbst entscheiden.“

 

Wenn man die Entwicklung der Behindertenhilfe seit der Gründung der Lebenshilfe bis heute überblickt, kann man den Umfang und die Qualität der unterschiedlichen Angebote sowie den neuen Geist der Wertschätzung und des Umgangs mit behinderten Menschen nur mit großer Anerkennung würdigen. Dennoch bleibt viel zu tun. Nach der Allensbach-Umfrage im Auftrag der Bundesvereinigung Lebenshilfe aus dem Jahr 2014 halten 62 % der Befragten Menschen mit Behinderung nur bedingt zur gesellschaftlichen Teilhabe befähigt. Ähnliches gilt für die Einschätzung zum selbständigen Wohnen. Und wir befinden uns erst in den Anfängen, die Forderung der UN-Konvention für die Rechte der Menschen mit Behinderung nach Inklusion praktisch umzusetzen.

Auch für das bisher Erreichte tun sich immer wieder Gefährdungen auf, die überwunden werden müssen. Die zunehmende Ökonomisierung der Behindertenhilfe gefährdet mehr und mehr das individuelle Recht des Menschen mit Behinderung und seine persönliche Förderung. Und man muss gar nicht auf die unselige Diskussion Mitte der 80er Jahres des letzten Jahrhunderts über die Philosophie eines Peter Singer (geb. 1946) verweisen, der selbst Mitglied einer jüdischen Familie ist, die aus Wien nach Australien fliehen musste und von der drei Großeltern dem Holocaust zum Opfer fielen. Singer vertritt nach der Nützlichkeitsphilosophie das Recht der Eltern, ein behindertes Kind töten zu lassen, wenn es ihrem Glück und dem der Familie im Wege steht. Der zunehmende Rechtsradikalismus in unserer Gesellschaft gefährdet nicht nur die „Fremden“, sondern letztlich auch Menschen mit Behinderung in ihrer Andersartigkeit und schließlich auch wegen ihrer mangelnden ökonomischen Nützlichkeit.

*Dr.  Bodo Schümann ist Pädagoge, Theologe und ehemaliger Abgeordneter der Hamburgischen Bürgerschaft. Außerdem war er langjähriger Geschäftsführer der Elbe-Werkstätten gGmbH.

Bodo Schümann schreibt darüber, dass Eltern aus Hamburg 1960 die Lebenshilfe gegründet haben.

Davor gab es nicht viel Hilfe für Menschen mit geistiger Behinderung.

Die Eltern wurden von dem Lehrer Horst Ziebell dabei unterstützt. Ziebell hat 1961 auch die erste Schule für Kinder mit geistiger Behinderung aufgebaut.