Prof. Dr. Dr. Christian Bernzen* zum Bundesteilhabegesetz:
Seit Langem ist der deutsche Staat verpflichtet, alle Menschen gleich zu behandeln. Menschen mit und ohne Behinderungen. Artikel 3 des Grundgesetzes garantiert dies. 2006 hat die Generalversammlung der Vereinten Nationen die Behindertenrechtskonvention beschlossen. Seit dem 26. März 2009 ist sie für Deutschland in Kraft getreten. Mit der Behindertenrechtskonvention kann man noch besser verstehen, was es bedeutet, alle Menschen gleich zu behandeln. Mit dem Bundesteilhabegesetz hat der Bundesgesetzgeber eine neue Grundlage für die Hilfen für Menschen mit Behinderungen geschaffen. So wird deutlicher, was Gleichbehandlung heißt: Menschen mit Behinderungen sollen die geeigneten und erforderlichen Hilfen bekommen, um ein Leben mit möglichst wenig Einschränkungen zu führen. Vor allem um diese vier Gruppen von Hilfen soll es gehen:
- Leistungen zur medizinischen Rehabilitation
- Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben
- Leistungen zur Teilhabe an Bildung
- Leistungen zur Sozialen Teilhabe
Die passende Hilfe finden
Jeder einzelne Mensch soll Hilfen so bekommen, dass sie genau für ihn oder sie passen. Das ist oft schwer herauszufinden. Deshalb gibt es eigene Hilfeplanungsverfahren. Am wichtigsten ist aber, dass die Menschen mit Behinderungen selbst gut wissen, welche Hilfe sie brauchen und welche nicht.
Drei Beispiele:
- Einen stört es, wenn eine fremde Person in seine private Wohnung kommt und sauber macht. Eine andere freut sich über eine solche Hilfe.
- Einer möchte kochen lernen. Eine andere denkt, dass sie das sowieso nicht schafft und will. Sie möchte lieber Essen gekocht bekommen.
- Und man muss entscheiden: Wo will man arbeiten und welche Hilfen braucht man dafür?
Bevor man nach einer Hilfe fragt, muss man deshalb überlegen, was man selber will und können möchte.
Genau hinsehen
Das Wichtigste bei der Umsetzung des Bundesteilhabegesetzes ist: Menschen mit Behinderungen, ihre Angehörigen und Personen, die ihnen nahestehen, die Menschen, die bei Leistungserbringern arbeiten, und die Menschen, die die Hilfe planen, müssen verstehen, wie wichtig Freude und Hoffnung und Ängste und Trauer von Menschen mit Behinderungen sind. Noch sind viele darin nicht gut genug. Menschen mit Behinderungen denken zum Beispiel manchmal, das Wichtigste sei, dass sie bei der Arbeit oder ihrer Wohngruppe nicht stören. Profis wissen manchmal schon, bevor sie gefragt haben, was hilft (meistens das, was es schon gibt). Aber das reicht nun nicht mehr aus. Jetzt muss in jedem Einzelfall genau hingeschaut und nachgedacht werden, was es wirklich braucht. Manchmal ist das mehr Hilfe als bisher, manchmal weniger. Wissen kann man das erst, wenn man gut genug hingeschaut und nachgedacht hat. Umsetzung des Bundesteilhabegesetzes heißt vor allem, das zu lernen. Dann wird personenzentrierte Hilfe möglich.
Komplizierte Verträge und ein Trägerbudget
Außerdem müssen die Verträge zwischen dem Staat und den Leistungserbringern noch so verändert werden, dass Platz ist für all die verschiedenen Hilfebedarfe und dass (zumindest normalerweise) genügend gute Assistenz da ist. Diese Verträge waren früher, als der Hilfebedarf der einzelnen Menschen noch nicht so genau angeschaut wurde, wie es heute richtig ist, viel wichtiger. Schließlich regelten sie, welche Hilfe es für die einzelnen Menschen gab. Heute sind die Verträge eigentlich nicht mehr ganz so wichtig, sie sollen nur noch den Rahmen für die personenzentrierte Hilfe schaffen. In Hamburg gibt es ein Modell, das dafür eine Richtung zeigt. Mit einem Trägerbudget sollen Leistungserbringer genug Geld für ihre Arbeit bekommen. Wenn das sicher ist, können sich alle auf das konzentrieren, was wirklich wichtig ist: Gut hinschauen und zuhören. Ordentliche Hilfe planen und organisieren. Und die Menschen mit Behinderungen fragen, was gut und was schlecht war und was verbessert werden soll.
*Prof. Dr. Dr. Christian Bernzen ist Mitglied im Vorstand der Bundesvereinigung Lebenshilfe