Gründung einer ambulant betreuten Wohngemeinschaft
Der Auszug aus dem Elternhaus ist ein bewegendes Thema für Eltern und „Kinder“. Mit dem Auszug beginnt ein neuer Lebensabschnitt, der Raum für neue selbstbestimmte, soziale und kreative Entfaltung mit sich bringt.
Die UN-Behindertenrechtskonvention formuliert in Artikel 19 das Recht auf eine unabhängige Lebensführung, es soll gewährleistet werden, dass, „a) Menschen mit Behinderungen gleichberechtigt die Möglichkeit haben, ihren Aufenthaltsort zu wählen und zu entscheiden, wo und mit wem sie leben, und nicht verpflichtet sind, in besonderen Wohnformen zu leben“.
Für die Umsetzung müssen aber auch Leistungen/Angebote zur Verfügung stehen.
Lange Zeit konnten Menschen mit Behinderung primär zwischen verschiedenen stationären Einrichtungen wählen. Fürsorge und pflegerische Versorgung stehen dabei überwiegend im Vordergrund, weniger aber Partizipation und Selbstbestimmung. Im Zuge des Paradigmenwechsels in der Behindertenhilfe haben sich neben stationären Wohnformen auch verstärkt ambulante und individuellere Wohnformen entwickelt, wodurch die Gestaltung eines Lebensortes möglich werden soll, die in der eigenen Wohnung, Wohngemeinschaften oder Hausgemeinschaften stattfindet.
Neue Wege gehen: Eltern und Kinder suchen eine neue Wohnform.
Die Lebenshilfe begleitet seit Juli 2016 eine Gruppe von Eltern, die sich zusammengeschlossen haben, um für ihre erwachsenen Kinder ein Konzept für eine ambulant betreute Wohngemeinschaft zu entwickeln. Bisher wohnen die jungen Erwachsenen noch bei ihren Eltern. Das Projekt hat zum Ziel, dass die jungen Erwachsenen mit Beeinträchtigungen langfristig ein Zuhause haben, das Sicherheit bietet, in dem sie sich wohlfühlen und sie zuverlässig versorgt werden. Die Eltern haben den Entschluss aus der Frage heraus gefasst, welche Eckpfeiler entscheidend sind, damit dieses Zuhause auch Freiheit und Unabhängigkeit für ihre Kinder bedeutet und ebenso wie es langfristig gesichert werden kann.
Das Zusammenleben in einer ambulant betreuten Wohngemeinschaft zielt auf eine selbstständige und selbstbestimmte Lebensführung der jungen Erwachsenen ab. Sie richtet sich an junge Menschen die Unterstützung in verschiedenen Bereichen benötigen. Hierfür bietet die AWG Unterstützungsangebote bei der Pflege, persönlichen Entwicklung und Alltagsbewältigung. Die Versorgung passt sich an die individuellen Bedarfslagen der BewohnerInnen an.
Wohnen und Selbstbestimmung
Selbstbestimmung heißt auch, nicht in dauerhaften Abhängigkeiten zu seinen Eltern oder zu einem bestimmten Dienstleister zu stehen, sondern frei wählen zu können, mit wem man zusammenleben möchte und von wem man Unterstützung erhalten möchte. Hierfür ist es wichtig, dass Entscheidungswege und rechtliche Rahmenbedingungen so gestaltet werden, dass es nicht zu einer dauerhaften Abhängigkeit kommt. In der aktuellen Konzeptentwicklung ist vorgesehen, dass die Eltern sich als eine gemeinnützige Gesellschaft mit beschränkter Haftung (gGmbH) zusammenschließen. Das hat den Vorteil, dass die Gesellschaftsanteile vererbt werden können, wodurch der Wohnraum langfristig gesichert werden kann. Außerdem schafft es Sicherheit für den Vermieter, da ein gezielter Ansprechpartner zur Verfügung steht. Die Eltern machen die Untermietverträge mit den BewohnernInnen. Hierdurch können die Eltern Einfluss darauf nehmen, wer als neue(r) BewohnerIn einzieht und wer nicht – ebenso wie die BewohnerInnen selbst. Durch diese Variante besteht keine Abhängigkeit zu einem bestimmten Träger, der darüber entscheidet, wer in die Wohngruppe einzieht.
Die BewohnerInnen schließen sich zu einer Gesellschaft bürgerlichen Rechts (GbR) zusammen. Zusätzlich zur Bewohnerschaft gibt es ein zusätzliches Mitglied als Zwischeninstanz. Das Mitglied übernimmt die Funktion eines Vermittlers bzw. Mentors. Die BewohnerInnen und BetreuerInnen erarbeiten zusammen mit dem Mentor eine Betreuungsstruktur. Die BewohnerInnen sollen ihre Wünsche und Anliegen mit Hilfe des Mentors bestmöglich äußern und umsetzen können, losgelöst von ihren Eltern oder den Betreuern . Ziel ist es eine Struktur für die Betreuung zu entwickeln, die dann so dicht wie möglich an den BewohnernInnen ist. Die GbR agiert als Auftraggeber für Dienstleistungen: Nicht jeder Bewohner kauft sich alleine seine Dienstleistungen ein, sondern es wird ein gemeinsamer Vertrag mit einem Anbieter gemacht. Die Betreuung findet wie beschrieben über einen externen Dienstleister statt, diesen suchen sich die BewohnerInnen selber aus. Der Betreuungsumfang richtet sich nach der ermittelten Bedarfserhebung.
Der Abbau von sehr starren stationären Einrichtungen schafft Platz für neue individuelle Wohnformen, die Umsetzung dessen ist allerdings keine leichte Aufgabe. Es erfordert viel Einsatz und Durchhaltevermögen insbesondere von Angehörigen, um das Ziel einer unabhängigen Lebensführung für Menschen mit Behinderung auch wirklich zu erreichen.